2001 führten wir ein Gespräch mit Francesco Carotta in Kirchzarten.
„Wie sind Sie überhaupt dazu gekommen?“
„Die Tatsache, daß die Gesichtszüge die des Caesar sind, aber nicht der Ausdruck, könnte für eine Totenmaske sprechen; die Kopfform wäre dann deswegen eine andere, weil der Abdruck nur vom Gesicht genommen worden war. Dann wäre es erst recht Caesars Pietà.“ Carotta 1999
Caesar-Kopf aus dem Museo Torlonia, Rom 44. Jh. v. Chr. nach: Simon; Toynbee

Carotta (kondensiert):
„Ich hatte ein Bild von Caesar wie alle anderen: als Feldherr und Diktator. Dann sah ich in einem Jahrbuch zum 2000-jährigen Todestag von Caesar einen Caesar, der wie Jesus Christus aussah. Da ich in meiner Kindheit Messdiener gewesen war, dachte ich mir: Moment mal, vor solchen Gesichtern habe ich als Kind geweihräuchert… das ist nicht Caesar! Plötzlich hatten zwei Personen, die nichts miteinander zu tun hatten, dasselbe Gesicht! Das Piéta-Gesicht ist das Bild Jesu – wie kommt das?! Es zog sich jedoch über die Jahre hin, weil ich irregeleitet war: Ich hatte diese Idee im Kopf, dass das Evangelium lange gepredigt wurde, bevor es aufgeschrieben wurde. Ich hatte nur für mündliche Aspekte ein Augenmerk und nicht für schriftliche. Irgendwann musste ich mich zwischen meinen Firmen und dieser Sache entscheiden. Das war wirtschaftlich die schlechteste Entscheidung. An diesem Tag bin ich über den Rubikon gegangen – und jetzt muss ich zusehen, dass ich nicht über den Jordan komme… aber ich würde es wieder tun. Doch ich habe das Gefühl, dass ich es umsonst getan habe, denn ich bin – wie dieser Schreiber – in der glücklichen Situation, dass ich alle meine Leser kenne…“.
Thomas Röttcher (kondensiert): „Wir sind nicht hier um ihre Entdeckung auseinanderzunehmen. Wahrscheinlich gibt es kaum jemand, der tief genug in der Materie ist, um sie zu widerlegen. Uns geht es darum einen Artikel zu schaffen, der nicht von vornherein vom Leser abgelehnt wird, da er das Wertesystem angreift und zweitens um den wissenschaftlichen Hintergrund ihrer Arbeit rüberzubringen. Was kommt dem Laienleser zuerst in den Kopf, wenn er die These sieht. Ich bin sicher, dass viele Leser es erst einmal emotional ablehnen, da sie Angst haben, dass man ihnen Jesus wegnimmt und alles, was sie daran geknüpft haben als Wertesystem wegbricht. Doch das ist nicht so – im Gegenteil wird Jesus von all dem missverständlichen Kauderwelsch befreit und die Kernthese, welche sich ja auch in der Clementia Caesaris zeigt, wird eigentlich noch gestützt. Das erkennt der Laie aber im ersten Moment nicht. Auch die Chronologie-Kritiker wie Uwe Topper können das nicht erkennen, da sie mit einem ganz bestimmten Filter auf ihre Veröffentlichung schauen. Wir möchten aber diesen Filter erweitern und mit einem Blick der den gebildeten Leser erkennen lässt, dass es sich hier um ein repräsentatives Beispiel handelt, wie man mit konstruktiven Thesen, welche außerhalb des wissenschaftlichen Hochschulapparates entstehen, sinnvoll umgehen können, damit sie das ganze System weiterbringen können. Wenn sie zu den zehn größten Kritikpunkte Stellung beziehen könnten, wäre schon viel gewonnen.“
Carotta: „Es gibt keine zehn Punkte – es gibt vielleicht drei…der erste Einwand, der auch dann kommt, wenn er nicht formuliert wird ist: Jesus war ein Wanderprediger und Caesar ein Kriegsherr, der viele Morde und Kriege zu verantworten hat. Caesar war sozusagen der Vorgänger von Mussolini und Hitler – ein Diktator, der Pinochet Roms. Aber zumindest ist der der Feldherr. Übrigens ist es für die gesamte Geschichtsschreibung so. Wenn man beispielsweise den kleinen Pauli als Beispiel nimmt, so wird Caesar als Feldherr, Diktator und höchstens noch als Schriftsteller beschrieben, aber ein zweifelhafter, da er ja über die eigenen Taten schreibt – ein schreibender Feldherr sozusagen.
Die Tatsache, dass Caesar Pontifex Maximus war wird wenig beleuchtet – heute würde man Papst dazu sagen – der heutige Papst nennt sich auch Pontifex Maximus. Es bedeutet „oberster Priester“ oder Hohepriester. Es gibt kein deutsches Wort für Pontifex. Die Römer hatten verschiedene Priester wie den Pontifex, den Augur, den Flamen, welche alle als Hohepriester übersetzt werden können. Über die Herkunft von Pontifex gibt es nur Vermutungen. Es wird als „Brückenbauer“ übersetzt als einfachste Bedeutung, aber es kann sein, dass dies bereits eine lateinische Volksetymologie war. Es kann sein, dass nicht einmal die Römer wussten woher das Wort wirklich kommt. Jedenfalls wurde es bereits damals als Brückenbauer übersetzt. Die Römer setzten sich aus verschiedenen Völkern zusammen; es gab den latinischen, den sabinischen und den etruskischen Anteil, was sich in „Tribus“ zeigt – es bedeutet nicht Stamm, sondern „Dreierlei“ aus Ramnes (wahrscheinlich etruskisch), Tities (sabinisch), und Luceres (lateinisch). Vielleicht war Pontifex eine Verbindung zwischen diesen drei Völkern. Da Völker oft durch einen Fluss getrennt waren passt der Begriff. Rechts vom Tiber waren die Etrusker, links davon die Latiner.
Dass Caesar also Pontifex Maximus war wird in den Biografien meist nur beiläufig erwähnt. Doch zu Beginn des Bürgerkrieges hatte er keine Ämter mehr, sein Prokonsulat in Gallien war abgelaufen und für das Konsulat durfte er nicht kandidieren. Er hatte nur noch die Würde des Pontifex Maximus und als solcher trat er in den Bürgerkrieg ein und setzte sich für die vom Senat aus Rom vertriebenen Volkstribunen ein. Wenn das nur beiläufig erwähnt wird, fällt das Wesentliche in der Geschichtsschreibung unter den Tisch.
Auch Caesars Abstammung von der Venus wird wenig betont. Die Julier betrachteten sich als Abkömmlinge von Julus, Sohn des Aeneas und Aeneas war Sohn der Venus und stammte aus Troja. Das ganze julisch-claudische Haus, also auch Augustus und die nachfolgenden Kaiser, betrachtete sich als Nachfahre der Venus. Dies wird in den Geschichtsbüchern als Folklore abgetan.
Auch die Tatsache, dass schon zu Lebzeiten Caesars bestimmt wurde, dass er nach seinem Tod zum Gott Divus Iulius erhoben werden würde wird wenig beachtet. Doch es war der höchste Gott des Reiches und was für einen Kult dieser Gott hatte wird nicht untersucht. Auch was aus diesem Kult geworden ist, fragt sich niemand. Man sagt, dass auch die nächsten Kaiser versuchten, ihren Kult durchzusetzen und so wird der Kult des Divus Iulius als Paradigma für den späteren Kaiserkult gesehen. Damit ist die Untersuchung abgeschlossen. Doch der Kult des Divus Iulius war ein spezieller Kult. Die späteren Kaiser verwendeten nicht den Tempel des Divus Iulius sondern bauten sich eigene Tempel, welche oft früh verwüstet wurden und oft der damnatio memoriae anheim fielen, wie z. B. bei Domitian, an dessen Stelle der Tempel des Nerva kam. Es wird nicht beachtet, dass der Kult des Divus Iulius auch dann bestand, wenn es keinen Kaiserkult gab oder dieser scheiterte. Es gibt nur zwei oder drei spezielle Untersuchungen zum Kult des Divus Iulius, z. B. Stefan Weinstocks „Divus Iulius“. Leider ist der Autor vor Veröffentlichung des Werkes verstorben und zum Schluss ein wenig kurz geraten. Er konnte der Frage, was aus dem Kult geworden ist nicht mehr nachgehen.“
Röttcher: „Also war der Kaiser-Teil der weltliche und Divus Iulius der religiöse Bestandteil des Reiches?“
Carotta: „Genau. Jetzt muss man beachten, dass der heutige Leser in seiner Zeit verwurzelt ist. Und vor ihm gab es bereits die Trennung zwischen Erasmus (Humanismus) und Luther (Reformation), die Wissen und Glauben untereinander aufgeteilt haben und in ihrer Folge die Trennung von Universität und Kirche. Die Universität behandelt den weltlichen Caesar und nicht den religiösen Caesar.“
Röttcher: „Es ist ja nur bekannt, dass die Römer ihre Götter wie Venus und Mars hatten. Wie war der Zusammenhang mit Divus Iulius? Im Allgemeinen geht man ja davon aus, dass die römischen Götter von den Griechen übernommen wurden.“
Carotta: „Die Römer waren bekanntlich Polytheisten; es gab die kapitolinische Trias Jupiter, Juno und Minerva und nebenbei hatten sie noch einige andere Götter, die ihnen sehr wichtig waren wie Vulkanus, Mars, Venus – dem Volk waren diese immer wichtig. Auch Romulus wurde vergöttlicht als Quirinus. Auch Janus und Merkur. Aber auch die Griechen hatten ihre Götter und als die Römer mit dem Hellenismus in Kontakt kamen, denn sie haben ja das gesamte hellenistische Reich übernommen, da gab es eine interpretatio romana. Man sagte also: der römische Jupiter ist der griechische Zeus, Minerva ist Athena und Juno ist Hera und Mars ist Ares und Venus ist Aphrodite, Vulkanus ist Feistus und so weiter. Für manche hatten sie keine Entsprechung, wie z. B. für Romulus/ Quirinus und verzichtete. Aber sie machten dasselbe auch mit den Göttern anderer Völker wie der Kelten. Man sagte, die Gallier würden den Merkur verehren und anscheinend hieß er Esu. Auch hier wurde angeglichen. Die ägyptische Isis wurde mit Aphrodite gleichgesetzt und somit auch der Venus. So kam der Isis-Kult nach Rom und über Isis-Horus konnte Venus Genetrix und Caesarion eine Angleichung finden und führte zum Marienkult. Dieser kommt vom Isis-Kult über den Kult der Venus Genetrix.
Aber die Römer haben einen eigenen Kult produziert den keiner hatte – Divus Iulius. Im Orient, im hellenistischen Rahmen gab es nur ein Beispiel: Alexander der Große, der ebenfalls zum Gott gemacht wurde: zum Amun-Zeus. Er wurde in der Oase Siwa zum Amun gemacht und mit Zeus angeglichen. Aber es war eine Angleichung. Alexander wurde dem Amun und dem Zeus angeglichen.
Aber Divus Iulius war keine Angleichung – es war ein neuer Gott nach römischem Muster! Wie Romulus zu Quirinus gemacht wurde, wurde Caesar zu Divus Iulius gemacht. Dies wurde bereits zu seinen Lebzeiten beschlossen. Dies war mit ein Grund für seine Ermordung, da er sich zum Gott und König, zum Gottkönig machen wollte. Nach dem Sieg über die Caesarmörder hatte Octavian als Adoptivsohn ein großes Interesse, den Kult des Divus Iulius durchzusetzen. Und ipso facto wurde Octavian als Sohn Caesars zum Gottessohn, Divi Filius – so konnte ihm keiner das Wasser reichen. So setzte er sich zuerst gegen den Bruder des Antonius durch und dann gegen Antonius selbst. Im ersten Bürgerkrieg in Perusia fand man die Bleigeschosse, die Octavian auf den Bruder des Antonius und Fulvia hatte schießen lassen mit der Aufschrift Divus Iulius. Und als er sich durchgesetzt hatte ließ er alle massakrieren. Er opferte sie Rituell – Hunderte!“
Röttcher: „Wenn auch andere Kaiser ihren Kult errichten wollten, weshalb hat sich gerade der Kult des Divus Iulius so stark durchgesetzt?“
Carott: „Die nächsten Kaiser nannten sich nicht zufällig „Kaiser“. Es war ursprünglich ein Name: „Caesar“ – Kaisar ist die griechische Aussprache von Cäsar. So wie sie Caesars Namen, Staus und Befugnisse von Caesar hatten, wollten sie nach ihrem Ableben möglichst auch zu Göttern gemacht werden. Den Besseren unter ihnen gelang es ja – dies war ja abhängig, was man nach ihrem Ableben entschied. Sie konnten es nicht selbst bestimmen. Sie wurden zwar bereits zu Lebzeiten als Götter angesprochen, aber wenn sie nach ihrem Tod verdammt wurden, wurden ihre Namen ausradiert. Auch bei den bereits zu Lebzeiten errichteten Tempeln wurden die Namen erasiert. Lediglich Augustus wurde als Divi Filius ebenso stark verehrt. Auch Vespasian, der Gründer der Dynastie der Flavier, war als Eroberer Judäas bedeutend. Er brachte jüdische Gelehrte nach Rom und es fand eine zweite interpretatio statt – der Messias, auf den die jüdischen Gläubigen warteten spielte da eine große Rolle. Es war einer der Gründe für den Krieg, denn laut einer Prophezeiung sollte aus jenem Land der Messias hervorgehen. Josephus, einer der Aufständischen lief zu Vespasian über und nannte sich nach seiner Freilassung und evtl. Adoption durch Vespasian Flavius Josephus. Er wurde sozusagen Verspasians Juden-Minister und sollte die Juden der Diaspora davon überzeugen, dass der Messias gekommen sei und es sei Vespasian und sein Sohn Titus. Das war die Idee des Josephus, der eigentlich Selbstmord hatte begehen sollen, doch dabei sei ihm Gott erschienen und habe ihm offenbart, dass Vespasian der Messias sei und er Kaiser werde – und sein Sohn Titus ebenfalls. Damals war Vespasian noch ein General des Nero und nach dessen Ermordung in Rom riefen die Legionen in den verschiedenen Teilen des Reiches jeweils ihren General zum Kaiser aus. In Germanien Vitellius, in Galliläa Vespasian usw. – das berühmte Vierkaiserjahr. In der Poebene (Gallia Cisalpina) gewann Vespasians General die Schlacht und so wurde Vespasian in Galliläa zum Messias und in der Gallia Cisalpina zum Kaiser. Die Juden konvertierten im römischen Reich später alle zum Christentum. Die heutigen Juden kamen erst wieder im Zuge des Islam aus dem Orient nach Europa. Die Überlebenden aus Persien kamen über Nordafrika nach Spanien. Als sie von dort vertrieben wurden kamen sie nach Europa. Aber im römischen Reich wurden die Juden praktisch restlos integriert – die Restlichen flüchteten in die Ariabene zu den Parthern. Dass in Spanien jüdische Gemeinden überlebt hätten sind Spekulationen. Sicher ist, dass Juden mit dem Islam nach Spanien kamen.
Die Juden wurden Römer und das Christentum ist der verformte Kult des Divus Iulius zur Integration der Juden in das Reich. Deshalb wurde die biblia judaica als Altes Testament der Christen dazu genommen – mit großen Widerständen. Als sie im zweiten und dritten jüdischen Krieg aus Judäa unter Hadrian vertrieben wurden gingen sie in die Diaspora vor allem in die neu gegründeten Kolonien des Caesar und des Augustus als Freiberufler. Paulus ist ein Beleg für den Streit der christianisierten Juden (wie Paulus selbst) und den judaisierenden Juden. Das Christentum, wie es uns erhalten ist, ist ein Kompromiss. Jesus wird in der gesamten Ikonographie nie als Jude dargestellt. Die Juden wurden immer als Juden mit dem römischen Pilius als Freigelassene gekennzeichnet. Bei der Freilassung wurde der Kopf rasiert, er bekam einen Pilius, Sandalen und eine spezielle Toga – und das ist bis heute die Tracht der Juden. Es ist keine jüdische Tracht, sondern die Tracht des römischen Freigelassenen. Es war Ausdruck, dass man kein Sklave sondern römischer Freigelassener war. In den Augen der Römer war Jude eine ethnische Gruppe, wie Germanen und Gallier – Römer konnte jeder sein. Es gab gallische Römer, germanische Römer – so wie früher ein latinischer Römer oder sabinischer oder etruskischer Römer, denn römisch ist nicht ethnisch. Es ist eher ein Verein, dem man beitreten kann, wenn man es sich auf Basis des meritus verdient hat. Entweder hatten sich bereits die Eltern im Dienste Roms ausgezeichnet und man wurde somit als Römer geboren, oder man ist in die Legion eingetreten und wurde nach 25 Jahren Dienst römischer Bürger. Als Veteran bekam man ein Stück Land in einer neu angelegten Kolonie und das ius conubii, also das Recht, eine Frau seiner Wahl zu heiraten und die Kinder trotzdem Römer sind. Es gab auch für ganze Völkerschaften oder Städten, die im Krieg auf Seiten der Römer gekämpft hatten die Möglichkeit, en bloc römische Bürger zu werden – wie im Kampf gegen Vercingetorix.“
Röttcher: „Wieso hat sich die Tracht der Freigelassenen dann gerade bei den Juden durchgesetzt?“
Carotta: „Sie wissen, dass der Konservatismus in der Kultur als ein Zeichen der Akkulturation gilt. Wenn man z. B. die italienischen Dialekte betrachtet, so merkt man, dass das Toskanische das konservativste ist, d.h. es entwickelt sich überhaupt nicht. Sie können heute noch Texte von Dante aus dem 14. Jahrhundert lesen und es ist noch italienisch wie heute. Versuchen Sie mal einen Text aus einem anderen italienischen Dialekt aus dem 14. Jahrhundert zu lesen oder einen deutschen Text aus dem 14. Jahrhundert – da müssen sie zuerst drei Jahre studieren. Die Toskaner waren Etrusker und die etruskische Sprache war dem Lateinischen völlig fremd. D. h. die Akkulturation hat brutal stattgefunden – deshalb ist es konservativ. Es wird also von Völkern, welche abrupt akkulturiert werden dasjenige bewahrt, was zu dem Zeitpunkt der Akkulturation kennzeichnend war. Dies findet nicht statt, wenn sich das Volk integriert. Aber am Rande des Reiches, wie im Falle der Juden bei den Parthern blieb die römische Tracht des Freigelassenen erhalten.
Auch im religiösen Milieu gibt es diesen Konservatismus – sehen sie sich buddhistische Mönche an: sie tragen die römische Toga, sogar rot, wie sie damals nur der Kaiser tragen durfte, der Kopf ist rasiert.“
Röttcher: „Aber es gab doch gar keine Berührungspunkte…“
Carotta: „Das würde jetzt ein bisschen weit führen, aber was gerne vergessen wird ist die Orientreise des Augustus, bei der Botschafter von den Parthern und sogar aus Indien ihn sozusagen als Kaiser anerkannten. Auch wird vergessen, was sein adoptierter Enkel Gaius im Orient gemacht hat; dass er sich der Armee entzogen und eine Art mönchisches Leben führte. Es wird vergessen, welchen Einfluss Rom außerhalb seiner Grenzen hatte. Es gibt römische Münzen in China; über die Seidenstraße gab es Kontakt bis dahin und auf derselben Straße hat sich später das Christentum ausgebreitet und eben auch der Buddhismus. Ich wäre mir nicht so sicher, einen Kontakt auszuschließen, nur weil wir uns hier auf unserem Gebiet eingeschränkt haben.“
Röttcher: „Verstehe ich es richtig, dass es kein Zufall war, das aus dem Kult des Divus Iulius das Christentum entstand, sondern dass es sogar bewusst herbeigeführt wurde, um die Juden einzugliedern?“
Carotta: „Damit wir uns nicht missverstehen: Am Ende meiner Untersuchung bin ich zu dem Schluss gekommen, dass das Christentum die historisch erhaltene Form des Kultes des Divus Iulius ist – nicht ein Abbild davon. Ich bin nicht verantwortlich für Titel und Untertitel meines Buches. Ich habe im Buch selbst dagegen argumentiert. Ich habe gesagt: „War Jesus Caesar?“ Nein! Jesus IST Divus Iulius. Es IST der uns tradierte Kult des Divus Iulius. Hat man „2000 Jahre eine Kopie angebetet“? Nein! Es ist keine Kopie, denn ein durch den Tradierungsprozess verzerrtes Bild ist immer noch keine Kopie, sondern es ist das, was man versucht hat wiederzugeben. Dass in diesem Prozess Verballhornungen stattfinden ist unvermeidlich, vor allem dann, wenn es Brüche in der Geschichte gibt. Es ist klar, dass es in dem Augenblick, wo das julisch-claudische Haus mit Nero ausstirbt und eine neue Dynastie kommt einen Bruch gibt. Wenn diese sich dann auch noch in Galiläa hochgedient hat, dann kommt als Kriegsbeute im Gepäck all das, was sie dort erobert haben mit. Der Messiasgedanke, den sie vier Jahre lang bekämpft haben bringen sie im Gepäck bzw. im Kopf mit und eine andere Sicht der Dinge findet statt.
Divus Iulius ist plötzlich als eine Erfindung des römischen Westens so nach Rom zurückgekommen, wie er im Orient gesehen wurde. Sein Spiegelbild ist zurückgekommen.
Es gibt eine wichtige Anekdote dazu: Als Vespasian und Vitellius um den Kaisertitel kämpften, war die Propaganda wichtig und was die Götter sagen, die Omina. Deshalb erinnerte sich Vespasian plötzlich an Josephus Aussage, er sei der Messias. Und eines Nachts geschah ein Wunder: die Statue des Divus Iulius vor dem Tempel des Divus Iulius, der dort schon seit über 100 Jahren stand, diese wichtige Statue, die am Ort seiner Verbrennung und Apotheose stand, schaute am östlichen Teil des Forum nach Westen zur Rednerbühne. Doch über Nacht hatte sich die Statue umgedreht und zeigte nach Osten. Böse Zungen meinten, es seien die Anhänger des Vespasian, die die Statue gedreht hätten, damit sie gegen Osten zeigte – doch die Anhänger des Vespasian verkündeten, es seien die Götter gewesen, welche die Statue gedreht hätten – gar Divus Iulius selbst habe sich umgedreht und durch die neue Richtung gezeigt, dass er Vespasian anerkennt. Dieser Perspektivwechsel ist wichtig: Jesus ist Divus Iulius, der sich ad orientem convertit – nach Osten hin gewendet hat. Hier ist das Wort konvertieren enthalten: Der Divus Iulius, der sich Richtung Osten dreht konvertiert sich; das ist Jesus – das ist er selbst, nur von der anderen Seite gesehen – vom Osten her gesehen. Von den Veteranen des Ostens, denn man soll nicht glauben, dass alle Anhänger Vespasians Juden waren. Alle römischen Kolonien des Ostens standen hinter Vespasian. Es waren die Kinder von im Osten angesiedelten Galliern, Germanen und Thrakern. Die Infanterie wurde von Caesar, Antonius und Octavian und auch später von Claudius in der Gallia Cisalpina (Poebene), im heutigen Frankreich, Süddeutschland, Tschechien, bzw. damals Pannonien, Belgien und Nordspanien rekrutiert. Das alles waren Kelten – und die Kavallerie waren meist Germanen. Die Kindeskinder dieser Gallier waren die Truppen des Vespasian und hatten in Galiläa gedient – sie waren also Gallier aus Galiläa. Das war das Volk, das Fußvolk und es waren auch Juden darunter, ein sehr theokratisches Volk. Und diese hatten eine bedeutende Funktion, denn Vespasian hatte ihnen unter Josephus eine Verantwortung übertragen, die gesamten Juden in das Reich zu integrieren. Deshalb war der Messiasgedanke sehr wichtig. So wurde der Divus Iulius, der schon der Christus und Retter des Westens und aller Römer war auch zum Messias der Juden.
Röttcher: „Das heißt es gab beides: ein bewusst angestoßener Prozess und eine Verselbständigung. Ich glaube nicht, dass etwas über Jahrhunderte manipuliert werden kann. Es verselbständigt sich immer. Es muss einen Anstoß geben, aber viele Menschen, Völker und Kulturen und deren Ideen greifen ineinander. Es ist ein Prozess, den man nicht steuern kann. Was nebenbei auch gegen die Weltverschwörungsgeschichte spricht.“
Carotta: „…jedenfalls wollte Michael Satzinger das im Rahmen von „kreuz und quer“ für das ORF verfilmen – doch die sogenannte „Religionsabteilung“ befand, es sei „zu spekulativ“ und man würde „den Leuten den Jesus wegnehmen“ und das „darf man nicht machen“.
Röttcher: „Ich würde es mir sogar als Spielfilm vorstellen – für´s Kino wäre es eine tolle Story…
Carotta: „Oberammergau könnte man schon organisieren, inszeniert…aber das wurde ja alles gemacht! Die Form in der die Passionsspiele oder die Karfreitagsliturgie und die ganze Osterliturgie stattfindet IST eine Inszenierung – hat Theaterzüge. Das ist von vielen erkannt worden – und das geht zurück auf die Inszenierung des Antonius. Antonius hatte sich das ganze am Anfang als Theater vorgestellt. Er hat dem Volk Sprüche aus der antiken Tragödie in den Mund gelegt, aus der Elektra des Sophokles oder aus Pacuvius: „Ach habe ich sie denn gerettet, dass sie mich zugrunde richten!“ Das war das Leitmotiv: „Mens servasse ut essent, qui me peremerunt.“ Das war das obsessive Leitmotiv, das der Chor immer wieder wiederholte.
Röttcher: „Kommt Uwe Topper auch deshalb zu seiner Kritik, woher Sie zwischen theatralischer Lyrik in der Caesar-Überlieferung und der echten Geschichte unterscheiden. Ist diese Frage berechtigt?“
Carotta: „Ja, das ist natürlich eine berechtigte Frage, aber es gibt ein anderes Schema und hat einen anderen Ursprung. Schon im letzten Jahrhundert hat Bruno Bauer erkannt, dass Motive aus Senecas Tragödien auch im Christentum zu finden sind. Das wurde immer wieder aufgegriffen. Bruno Bauer suchte einen Urevangelisten und dachte an einen literarischen Ursprung im Wechselspiel zwischen Seneca und Flavius Josephus, denn es ist ja derselbe Zeitraum. Seneca lebte zur Zeit Neros und auch der Jüdische Krieg fand unter Nero statt und dann kommt Flavius Josephus – das ist ungefähr derselbe Zeitraum. Da den Urevangelisten zu suchen ist kein schlechter Gedanke. Das Problem ist, dass sie nach einem literarischen Ursprung für das Evangelium suchten, als ob es eine Tragödie gewesen wäre, die jemand geschrieben hat. Das wurde immer wieder vertieft, zuletzt von einem Stecchini. Aber was nicht gesehen wird ist die Tatsache, dass Seneca das Theater nicht erfunden hat. Das Theater gab es schon bei den Griechen, von denen es die Römer übernommen hatten. Es wird übersehen, dass diejenigen, welche Caesars Beisetzung inszenierten sich im Theater sehr wohl auskannten und nicht zufällig aus den antiken Tragödien geschöpft haben, denn sie hatten begriffen, das JETZT da eine Tragödie stattfindet!
Die Inszenierung von Caesars Beisetzung war KEIN Theaterstück! Es war eine reelle Beisetzung, inszeniert von Leuten, die die Zitate aus den Tragödien auswendig kannten – sie gingen ja ständig ins Theater. Sie hatten die Zitate im Ohr und sie kamen ihnen leicht über die Lippen – wenn das Herz voll ist, läuft der Mund über – mit den berühmten Zitaten und Mustern ihrer Zeit. Deshalb wurde das ganze zu einer theatralischen Inszenierung – aber es WAR kein Theater, sondern ein reeller Akt.
Man kann in den Quellen lesen, dass Antonius dem Volk Verse aus der Elektra des Sophokles in der lateinischen Übersetzung in den Mund legte.
Wie gesagt war der berühmteste: „Ach habe ich sie denn gerettet, dass sie mich zugrunde richten!“, denn diejenigen die Caesar ermordet hatten waren diejenigen, die Caesar begnadigt hatte, die er wieder in Amt und Würden eingesetzt hatte und zum Dank ermordeten sie ihn. Das war es, was das Volk nicht mitgemacht hat.
Röttcher: „Können wir noch einmal auf die Gründe für Caesars Ermordung eingehen? In diesem Zusammenhang.“
Carotta: „Es waren philosophische Gründe. Nicht zufällig waren alle Caesarmörder Stoiker – es war ihr Begriff von Freiheit: „Eine Freiheit, die auf Caesars Gnade beruht, ist keine wahre Freiheit.“ Daran ist durchaus etwas Wahres. In dem Augenblick, als sie gegen Caesar gekämpft hatten, hatten sie ihre Freiheit zum Ausdruck gebracht. Als sie verloren hatten blieben ihnen nur noch zwei Möglichkeiten: entweder sie begingen Selbstmord wie Cato, „Ich will Caesars Gnade nicht über mich ergehen lassen“ – denn es war bekannt, dass Caesar alle begnadigte, die er besiegt hatte und wieder in Amt und Würden eingesetzt; vorausgesetzt sie waren keine Wiederholungstäter. Hatte man es aber mitgemacht, so war man im Konflikt mit sich selbst – wie Brutus: „Bin ich noch ein freier Mensch, wenn ich auf Grund von Caesars Gnade noch lebe und in Amt und Würden bin – bin ich da noch ein freier Mensch?!“ Das war ein Problem. Wenn der Mut zum Selbstmord fehlte, blieb nur der Mord als Weg zur vermeintlichen Freiheit. Doch dieser führte nicht zur Befreiung, sondern war ein verwerflicher Akt. Eigentlich hätten sie, wie Cato, Selbstmord begehen müssen. Nun steckten sie in der Klemme – einige waren sogar in Caesars Testament als Erben eingesetzt. Dadurch wurden sie zu Vatermördern. Darüber hinaus stellte sich heraus, dass Caesar, den sie als Tyrannen dargestellt hatten, in seinem Testament jedem Römer eine beträchtliche Geldsumme vermacht und der gesamten Stadt seine Gärten jenseits des Tiber hinterlassen hatte.
Dies offenbarte dem Volk, dass Caesar ein wahrer Patriot war. Er hatte ihnen seinen gesamten Reichtum hinterlassen und sogar die Mörder, die ihn verraten hatten, als Erben eingesetzt. Wie konnte es sein, dass sie ihn ermordeten, obwohl er ihnen so viel hinterlassen hatte? Das Verständnis für solch ein Handeln war schlichtweg nicht vorhanden.
Statt einer Rede ließ Antonius das Testament verlesen, und allein diese Tat hatte bereits eine tiefgreifende Wirkung. Anschließend ließ er durch den Herold alle Senatsbeschlüsse und Ehrungen für Caesar verlesen und fragte, während er auf die Leiche zeigte: „Was haben sie daraus gemacht?“ Der Herold verkündete, dass die Senatoren Caesar dazu gebracht hatten, seine Leibgarde zu entlassen, weil sich jeder einzelne Senator für Caesars Sicherheit verbürgt hatte – und was war das Ergebnis? Sie hatten ihn ermordet!
Antonius musste nur den Herold die Eide verlesen lassen, um zu zeigen, wie weit sie gegangen waren: Sie waren Eidbrecher, Vatermörder und Mörder eines Wohltäters des Volkes. Darüber hinaus hatten sie auch den Besieger der Gallier ermordet, der Rom von der Gefahr durch die Gallier befreit hatte – ein Fluch, der den Römern immer eine tiefe Angst eingeflößt hatte. Caesar hatte sie von dieser Bedrohung befreit, und nun hing er selbst am Tropäum. Das Resultat war ein Aufstand und ein wütender Mob, der nach Gerechtigkeit verlangte.
Röttcher: „Wie passen diese Gründe nun zum Jesus-Kult? Gibt es da eine Entsprechung? Der Gründe für die Ermordung des Jesus?“
Carotta: „Es sind dieselben Gründe: Warum wird Caesar ermordet? Ihm wurde vorgeworfen sich zum König und zum Gott gemacht zu haben, zum Gottkönig. Und Jesus wird vorgeworfen, er habe sich zum König und Gottgleich gemacht. Auch die Bekleidung ist dieselbe: der rote Mantel, der goldene Kranz wird nur zur Dornenkrone, aber der Habitus ist derselbe.
Röttcher: „Noch einmal zurück zu den Hauptvorwürfen – wir waren beim ersten stehen geblieben…“
Carotta: „Der erste Vorwurf war: Caesar war ein Feldherr und Jesus ein barmherziger Wohltäter. Wie wir gesehen haben liegt das Problem in der Aufteilung. In der Geschichtsschreibung wird nur der Mann Caesar behandelt – über Divus Iulius gibt es lediglich Spezialuntersuchungen. Die Theologen kümmern sich überhaupt nicht darum, denn sie haben bereits Jesus.
Wie gesagt wurden die Gebiete seit Erasmus und Luther abgesteckt – Geschichte einerseits und Theologie andererseits. Dazwischen gibt es nichts. Die Religionsgeschichte an der Universität behandelt ganz andere Themen. Es wurde zwar am Herrscher- bzw. Kaiserkult geforscht, aber als heikles Thema wurde es nie vertieft, zumal die Religionsgeschichte meist zur theologischen Fakultät gehört. Und auch wenn es zur philosophischen Fakultät gehört ist es dasselbe. Man möchte am liebst überhaupt nicht darüber sprechen. Die größten Widerstände finden sich übrigens bei den Historikern und nicht bei den Theologen. Ich habe, falls es euch interessiert den Test an der Universität Freiburg gemacht und angefragt, ob ich eine Dissertation über Divus Iulius einreichen kann. Ich habe mich auch dementsprechend für eine Promotion eingeschrieben und da ich früher Philosophie studiert habe wählte ich die philosophische Fakultät.